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Technologie

Interoperabilität im Schienenverkehr: Wenn der Bahnverkehr an Grenzen stößt

Susanne Stock

Susanne Stock

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Von Augsburg nach Amsterdam oder von Zürich nach Zagreb – Europa ist durch sein Schienennetz bestens verbunden. Zugegeben, die eine oder andere Fahrt braucht Zeit. Dafür wird die Reise zum Erlebnis, denn bei keinem anderen Verkehrsmittel können die Reisenden so entspannt die am Fenster vorbeifliegende Landschaft genießen wie im Zug. Doch der Zugverkehr durch unterschiedliche Länder hat auch seine Tücken, denn sie haben bisweilen abweichende Bahnsysteme und technische Standards. Wir zeigen, wo es mit der Interoperabilität bisweilen haken kann und wie die EU das Bahnreisen in Europa harmonisieren will.

Das europäische Eisenbahnnetz umfasst rund 230.000 Kilometer. Zum Vergleich: In den USA sind es „nur“ rund 290.000  Kilometer, obwohl die Grundfläche der Vereinigten Staaten mehr als doppelt so groß ist. 

Warum also nicht mal Europa mit dem Zug erkunden? In Deutschland scheint das ein Trend zu sein. Wie die Deutsche Bahn bekannt gab, sind die Buchungszahlen im internationalen Fernverkehr erheblich gestiegen. Allein im ersten Quartal des Jahres waren 4,4 Millionen Deutsche per Bahn ins europäische Ausland unterwegs. Das sind 40 Prozent mehr als im bisherigen Rekordjahr 2019. 2022 haben insgesamt mehr als 16 Prozent der Reisenden den Fernverkehr der DB international genutzt.  2019 waren es noch 13 Prozent.

Zumeist führt die Reise in ein Nachbarland; ganz oben auf der Liste steht Frankreich, gefolgt von Österreich und Belgien.

Doch natürlich lassen sich diese Reisen auch über weitere Ländergrenzen hinaus ausdehnen. Strecken gibt es genug:

Um solche langen Trips zu machen, sollte man jedoch nicht unter Zeitdruck stehen. Die Fahrpläne sind in der Regel nicht aufeinander abgestimmt. Beim Umsteigen müssen die Fahrkarten zudem eventuell beim nationalen Zuganbieter gekauft werden, wenn es keine Kooperationen oder kein Interrail-Ticket gibt,

Dennoch: Alles Sachen, die sich einfach regeln lassen. Anders sieht es bei technischen Aspekten aus, denn die Systeme sind nicht immer miteinander kompatibel. Hier spricht man von der Interoperabilität, also der Eignung, dass Züge auf verschiedenen Schienennetzen, auch denen verschiedener Länder, verkehren können.

Herausforderungen bei der technischen Interoperabilität

Unterschiedliche Stromversorgungssysteme

In Europa gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Standards für die Stromversorgung der Bahnen, die von Land zu Land und sogar innerhalb desselben Landes variieren können. Beispielsweise können die Stromversorgungssysteme für Hochgeschwindigkeitsstrecken von denen der herkömmlichen Strecken abweichen. Sowohl Gleichstrom als auch Wechselstrom werden für den Bahnbetrieb verwendet, wobei auch die Frequenzen und Spannungen je nach Region unterschiedlich sind.

Uneinheitliche Signal- und Zugbeeinflussungssysteme

Ähnlich wie im Straßenverkehr gelten auch für Züge Verkehrsregeln, die durch Schilder und Signale festgelegt werden und die Geschwindigkeiten auf den Strecken vorgeben. Dafür werden Zugbeeinflussungssysteme eingesetzt, die die erlaubte Geschwindigkeit kontinuierlich überwachen und sogar automatisch bremsen können, wenn beispielsweise ein Haltesignal überfahren wird. In Europa gibt es etwa 20 verschiedene Systeme dafür. Allein in Deutschland werden zwei Systeme verwendet: das punktförmige Zugbeeinflussungssystem (PZB) und das linienförmige Zugbeeinflussungssystem (LZB).

Kompatibilität der Bremssysteme

Züge bestehen normalerweise aus verschiedenen Fahrzeugen, die je nach Transportaufgabe und Verwendungszweck unterschiedliche Bauformen und Eigenschaften aufweisen können. Um eine einheitliche Bremsfunktion in allen Fahrzeugen des Zuges zu gewährleisten, sind die Fahrzeuge mit einem Bremssystem ausgestattet. In Europa ist die indirekt wirkende, selbsttätige Druckluftbremse am weitesten verbreitet. Die meisten davon sind miteinander kompatibel – aber nicht alle.

Rückschrittliche Kupplungssysteme

In vielen Ländern ist der Einsatz von automatischen Kupplungen im Schienengüterverkehr längst üblich. Während in den USA, Russland und China automatisches Kuppeln selbstverständlich ist, wird in Europa noch hauptsächlich auf mühsame Handarbeit mit Schraubenkupplungen gesetzt.

Doch das ändert sich gerade: Mit der Einführung der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) werden Güterwagen und ihre Strom-, Daten- und Druckluftleitungen automatisch miteinander verbunden. Die Einführung der DAK stellt eine Revolution im Güterverkehr auf der Schiene dar, da digitale automatische Kupplungen bisher noch nicht weit verbreitet sind. Europa hat nun die Möglichkeit, mit dieser Einführung von einem Nachzügler zur Vorreiterrolle zu gelangen. Besonders im grenzüberschreitenden Güterverkehr kann die Digitale Automatische Kupplung ihr volles Potenzial entfalten. Bis 2030 ist geplant, sie flächendeckend einzuführen.

Abweichende Spurweiten

In Europa gibt es verschiedene Spurweiten, da jedes Land seine eigenen Standards für den Schienenverkehr hat. Am weitesten verbreitet ist die Normalspur (Standard Gauge). Sie beträgt 1.435 mm (4 Fuß 8,5 Zoll) und wird unter anderem in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien genutzt.

Die Breitspur (Breitauge) beträgt üblicherweise 1.520 mm (5 Fuß) und wird z.B. in den baltischen Staaten verwendet.

Die Schmalspur umfasst verschiedene Spurbreiten, die kleiner als die Normalspur sind. Die tatsächliche Spurbreite kann je nach Land und Region variieren.

Beim Wechsel in ein Land mit einer anderen Spurbreite haben Passagiere zwei Möglichkeiten: Sie müssen den Zug wechseln oder auf ein längeres Umspuren warten.

Interoperabilität im europäischen Bahnsektor ist auf dem Weg

Europa wächst zusammen – das gilt auch für den Bahnverkehr. Es gibt eine Reihe an Initiativen, die die technischen Standards und Spezifikationen für den Schienenverkehr harmonisieren. Die EU-Kommission sieht in der Verordnung für die transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V) beispielsweise vor, die Spurweiten europaweit zu vereinheitlichen.

Die Interoperabilität ist einer der Zukunftstrends für die Bahnindustrie. Welche anderen Trends es gibt, lesen Sie in diesem Beitrag.

Kernstück der Harmonisierung ist das Europäische Eisenbahnverkehrsmanagement-System (European Rail Traffic Management System/ERTMS). Die Hauptkomponenten von ERTMS sind das europäische Zugsicherungssystem (European Train Control System – ETCS) und das digitale Zugfunk-Kommunikationsnetz (Global System for Mobile Communication – Railway – GSM-R). Mit der TSI ZZS 2022 soll Automatic Train Operation, also der automatisierte Fahrbertrieb, als dritter technischer Bestandteil hinzugefügt werden.

Bis wann soll ERTMS umgesetzt werden?

Ab Dezember 2025 soll keine Bahnstrecke im TEN-V mehr neu gebaut oder erneuert werden, ohne dass ERTMS zum Einsatz kommt. Bis Ende 2040 soll es ERTMS im gesamten TEN-V-Streckennetz geben.

Was ist das Ziel von ERTMS?

Durch die Standardisierung der Systeme soll die Interoperabilität zwischen den nationalen Bahnsystemen verbessert und der grenzüberschreitende Schienenverkehr erleichtert werden. Züge werden dadurch in der Lage sein, mit höheren Geschwindigkeiten und kürzeren Abständen zwischen ihnen zu fahren, was die Kapazität der Gleise erhöht. Zugleich wird das Risiko von Signal- und anderen menschlichen Fehlern reduziert, die zu Unfällen führen können.

Welche Herausforderungen entstehen bei der Umsetzung der TEN-V?

Das Beispiel der Vereinheitlichung der Spurweiten zeigt: Nicht alle europäischen Länder sind bereit dazu. Finnland und Estland lehnen die Idee ab, auch Litauen will keine Strecken umbauen. „Die Spurweiten zu ändern wäre weder wirtschaftlich noch operationell machbar“, sagt der finnische Verkehrsminister Timo Harakka. Estland hingegen fühlt sich durch den Neubau der Rail Baltica gut genug an Europa angeschlossen und habe überdies gerade viel Geld in die Elektrifizierung ihrer Strecken und in neue Züge investiert.